Eine etwas andere Reise in die glänzende Weltmetropole Englands
Man könnte sagen, ich kenne mich in London aus.
Als Mitglied einer kleinen, aber dafür umso weiter verbreiteten Familie habe ich auch Großeltern in London, England. Während andere mit 15 Cousinen und 20 Cousins am immer gleichen Familientisch sitzen müssen, habe ich das Privileg, mich nur einem sehr kleinen Kreis stellen zu müssen.
Was es aber nicht einfacher macht, ist der Fakt, dass diese Familie überall verbreitet ist. Onkel am Chiemsee, Patenonkel in Colorado, Großmutter in Wien, irgendjemand hat nach China angeheiratet, und eben einen Großvater in London. Da kommt man schon rum, auch, wenn man nach spätestens fünf Jahren derselben Tour jeden Stein beim Namen nennen kann.
Doch ist man durch, sagen wir mal spontan: eine globale Pandemie, daran gehindert, diese jährlichen Städtetouren abzuarbeiten, merkt man erstmal, wie sehr man nicht nur seine Familie, sondern auch das dazugehörige Tamtam vermisst!
Doch nun ist es endlich soweit, nach zwei Jahren endlich wieder das Land von Tea time, Fish and Chips und Harry Potter. Und obwohl es meinem introvertierten Arsch schon jetzt graut, präsentiere ich mit Freuden:
London in Zeiten von Corona
Die Stadt, in der man nicht mal umfallen könnte
Auch, wenn es nur zwei Nächte sind, freue ich mich wie Sau. Also stehen mein Vater und ich freitags früh um viertel vor acht am Frankfurter Flughafen, über zwei Stunden, bevor unser Flug gehen soll. Und da wir viel zu früh sind, geht natürlich alles wie am Schnürchen.
Falls ihr noch nie geflogen seid, dann lasst euch eins gesagt sein: Falls auch nur einer eurer Reisegruppe die Worte „Mann, heute sind wir aber knapp dran“ DENKT, gehen im Flughafen große Warnlichter an und das Personal sperrt sofort zwei Drittel der Security Checks zu und sendet mindestens vier Milliarden Passagiere aus, die alle genau jetzt mit euch da durch müssen, sodass ihr zu sämtlichen Gottheiten betet, dass euer Flug euch nicht vor der Nase wegfliegt. Niemand wird je so wütend wie Eltern im Stress am Flughafen. Niemand. Je.
Habt ihr allerdings Zeit, dann werdet ihr natürlich spontan an der vollen Economy-Class-Schlange vorbei zum freien Business-Class-Scanner geführt, weil irgendjemandem euer Hut gefällt oder warum auch immer.
Und falls jemand von euch andere Erfahrungen gemacht hat, no you didn’t.
So sitzen wir also gute eineinhalb Stunden vor dem Boarding an Gate B41, Impfpässe kontrolliert und zu Tode gelangweilt. Da mein Vater sich gerade drüber beschwert, woher denn das ganze Kleingeld käme, das er in der Sicherheitskontrolle aus sämtlichen Taschen kramen musste, schnappe ich mir die Münzen mit den Worten, ich würde uns mal Kaffee und Kaugummi besorgen.
Duty-Free.
Kann ja nicht so teuer sein.
Pfff, falsch gedacht.
Nachdem ich den erstbesten Laden mit Kaugummi am Tresen gefunden habe und nach meiner Lieblingssorte greife – dummerweise, ohne auf das Preisschild zu schauen – werde ich vom Kassierer aufgefordert, 5,70€ zu zahlen. Nein, das ist kein Tippfehler. 5,70€ für eine Packung Kaugummi.
Aber naja, bezahle ich eben und mache mich auf die Suche nach einem Kaffee, der mich nach kurzer Zeit des Suchens 6,90€ kostet, für einen Cappuccino und einen Espresso. Man könnte meinen, die würden den Müll hier vergolden! Und er schmeckt nicht mal sonderlich gut.
Aber was soll ich schon tun. Zurück am Gate verbringe ich also die restliche Wartezeit mit einem Buch (Der Meister und Margarita, von Michail Bulgakow by the way. Wurde von der Zeit zu einem der 100 besten Bücher aller Zeiten gewählt. Kann man mal machen, muss man aber nicht.).
Falls es jemanden interessiert, die Impfpasskontrolle bestand aus einem Typen, der meinen Vater gefragt hat: „Are you vaccinated?“ Ein simples „Yes“ wurde als vollständige, geprüfte Antwort akzeptiert.
Aber nun gut, Hauptsache, wir sind an Bord. An dieser Stelle spreche ich ein Hoch auf den Typen aus, der Noise cancelling headphones erfunden hat (Hab gerade gegoogled, scheinbar war das Dr. Lawrence Jerome Fogel, und zwar schon in den 1950ern. Props to you, bro.), denn dank ihm muss ich mir nicht zum tausendsten Mal die Sicherheitseinweisung anhören. Und kaum eine Stunde und 45 Minuten später betreten wir den Boden unserer allseits geliebten Queen Elizabeth II., und da ich diesen Artikel ja irgendwie an die Leiter der Schülerzeitung verkaufen muss, die im Moment total auf Corona abfährt, hier ein paar Fakten zu London und Covid:
Stand: 05.11.2021
7-Tage-Inzidenz: 254.3
Aktuell Erkrankte: ca. 52.000
Quelle: https://coronalevel.com/de/United_Kingdom/England/London/ (aufgerufen 05.11.2021, 17:48 Uhr)
Zur Maskenpflicht ließ sich im Internet Verschiedenstes rausfinden, angekommen allerdings stellen wir fest, dass Masken an den meisten Orten wie Restaurants, Pubs oder in Musicals stark empfohlen werden, aber nicht verpflichtend sind.
Anders am Flughafen, dort laufen stetig Durchsagen, ein Mundschutz sei verpflichtend.
Flughäfen sind schon komische Orte. Nirgends sieht man so viele Anime-Hoodies und streng gebügelte Anzüge am selben Ort, wobei sich das vielleicht bald ändern könnte, sollte sich der Bundestag dazu entscheiden, nicht nur die Verbrauchermesse, sondern jetzt auch die Gamescom zu besuchen.
Doch nicht nur das, scheinbar steht der Flughafen London Heathrow auch unter Beaufsichtigung des englischen Gesundheitsministeriums, denn nach der Passkontrolle hat man locker 10.000 Schritte rum. Trotz des ganzen Brexit-Bullshits müssen Briten und Bürger aus EU-Staaten durch dieselbe Kontrolle, die so kompliziert durch mehrere Hallen gelotst wird, dass es wahrscheinlich schneller ginge, würde ich mir nen eigenen Flughafen bauen und genug Geld für einen Privatjet verdienen.
Aber immerhin haben wir es noch besser als die armen Passagiere aus anderen Ländern in der Schlange neben unserer. In der ganzen Zeit, in der ich durch dieses Labyrinth irre, hat sich da drüben nicht eine Person bewegt. Irgendwann kommt sogar das Flughafenpersonal, um Snacks und Getränke zu verteilen, weil das Warten für sie kein Ende nehmen will, das ist kein Witz.
Als wir dann aber auch endlich diesen Teil unserer Reise überlebt haben, geht es ganz klassisch mit dem Taxi zu meinem Großvater, wo wir von seiner Lebensgefährtin darauf hingewiesen werden, dass niemand mehr Taxi fährt, und auch die berühmte U-Bahn out ist – man fährt mit Uber.
Für alle die, welche die letzten Jahre hinterm Mond verbracht haben: Uber sind Privatmenschen, die du über eine App bestellen kannst, damit sie dich mit ihrem Privatauto irgendwo hinfahren. Das Konzept ist sehr beliebt in den USA und Großbritannien, allerdings in Deutschland verboten. Deutsche Taxiunternehmen haben sich irgendwann dagegen aufgelehnt, es würde ja ihre Branche einschränken.
Und sie hatten nicht unrecht. Uber ist einfacher, günstiger und schneller als ein Taxi.
Also entscheiden wir uns für diesen London-Aufenthalt gegen unsere üblichen, wie mein Vater sich ausgedrückt hat, „proletarischen“ (das ist sein Lieblingswort neuerdings) Tube-Tickets und beschließen, dieses Uber-Dingens mal auszuprobieren.
Und ich muss schon sagen.
Wow.
Ich dachte, ich kenne mich in London aus.
Das erste Mal bin ich durch die tatsächliche Innenstadt gefahren, vorbei an Hochhäusern, Colleges, Firmengebäuden und Shoppingläden, in denen man Kleider kaufen kann, so teuer wie ein Jahresgehalt des deutschen Durchschnittsbürgers.
Alles leuchtet, alles glänzt, alles lebt. London lebt, Leute! Da sind Menschen, lachende Menschen, glückliche Menschen, nichts Lockdown, keine Quarantäne-Depression!
Allerdings ist das eine Sache, an die man sich als Dorfkind in einer Großstadt gewöhnen muss. Du wirst immer gesehen. Nicht gehört, keiner hat Zeit, sich für die Probleme eines einzelnen zu interessieren, aber jeder hat Zeit zu starren und zu beurteilen. Läufst du auf der Straße rum, dann garantiere ich dir, mindestens 50 Menschen bemerken dich.
Aber das ist London, heilige Scheiße! Ohne das würde es doch nur halb so viel Spaß machen.
Nach einem schnellen Check-in in unserem Hotel (Vintry & Mercer, sehr zu empfehlen, ein wirklich sehr gemütliches Hotel. Aber es wäre auch schwer gewesen, mich nicht für etwas zu begeistern, das an einer Straße namens „Garlick Hill“ steht. GARLICK!!) machen mein Vater und ich uns auf zu unserer Abendbeschäftigung: Wicked.
Ein Musical, in dem es um die böse Hexe aus „Der Zauberer von Oz“ geht.
Und obwohl ich meinem Vater wohl für immer unter die Nase reiben werde, dass wir auch „Hamilton“ hätten sehen können („Aber Smilla, ich dachte, das kennst du schon!“ – „Ja und?? Es ist Hamilton, warum würde ich das nicht sehen wollen?“ – „Kennst du das nicht schon auswendig?“ – „JA EBEN!“), muss ich zugeben, Wicked ist schon gut… Aber an dieser Stelle einen Tipp an alle, die je vorhaben, das Musical zu schauen: Tut euch auf KEINEN Fall vorher „Glee“ an, wenn ihr Rachel einmal „Defying Gravity“ schmettern habt hören, dann bekommt ihr das nicht mehr aus dem Kopf, egal wie gut die Originalperformance ist (und to be honest, nach der dritten Staffel ging’s mit Glee eh den Bach runter. Das war’s nicht wert).
Nach dem berührenden Ende des Musicals finden wir uns also vor der Apollo Hall wieder, dringlichst bemüht, ein Uber zu rufen, so wie gefühlt JEDER ANDERE aus diesem Musical.
Aber auch das ist bald geschafft. Auf der Fahrt nach Hause muss ich unwiderruflich noch einmal London bewundern. Selten konnte ich das Wort „Großstadtdschungel“ so gut nachvollziehen. Hochhäuser, deren oberster Stock vom Boden aus nur mit Inkaufnahme einer Nackenzerrung zu bewundern ist und altenglische Universitätscampi aneinandergeklebt und wie in „Die Sims“ gebaut. Jeglicher Style von Mensch ist zu finden und jeweils ein Dutzend perfekt auf sie zugeschnittene Modeläden. Es ist fantastisch. Und es lebt, es pulsiert, es atmet. Obwohl ich mein ganzes Leben in einem winzigen 900-Einwohner-Dorf verbracht habe, kann ich nicht abstreiten, dass ich ein Vollblut-Großstadtmensch bin.
Aber eine Sache ist zu London zu sagen:
Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist London sein genervter College-Mitbewohner mit Ohropax in den Ohren, weil er früh schlafen muss, um sich morgens um 6:00 Uhr aus dem Bett zu quälen, weil er sonst von seinem 9-to-5-Job gefeuert wird.
Denn wie wir bald feststellen müssen, kommt man in London um 23 Uhr eher schwer an Essen. Mein Vater ist fest entschlossen, „UberEats“, Ubers Äquivalent zu Liferando, auszuprobieren. Leider ist fast alles geschlossen, da in England nach 22:00 Uhr alles, was Alkohol ausschenkt, die letzte Bestellung aufnehmen darf. Notgedrungen bestellen wir Fast Food und gehen ins Bett.
Der zweite Tag startet hervorragend mit einem (almost) Full English Breakfast für meinen Vater und der vegetarischen Version für mich. Ein wenig moderner aufgezogen, aber trotzdem genauso lecker: Bacon, mushrooms, baked beans, tomato, bacon, hash browns, eggs, und statt toast sourdough. Fehlen würde nur noch black pudding, aber der schmeckt den meisten sowieso nicht.
Nach zwei Kannen Tee machen wir uns also auf zum Shoppen, in die Oxford Street. Hätte man sich im London vor Corona eingefunden und wäre spontan in die Oxford Street, eine der größten Shopping-Straßen der Stadt, gegangen, hätte man Menschenmassen eines solchen Ausmaßes gesehen, es hätte jegliche Vorstellungen übertroffen. Man war so von Menschen umgeben, hätte man es gewagt, umzufallen, es wäre nicht gegangen.
Doch nun muss ich wirklich sagen, ich könnte mich auf den Boden legen. Wahrscheinlich würde niemand auf mich achten und ich hätte am Ende einige gebrochene Gliedmaßen, aber ich würde liegen. Sehen wir das mal positiv.
Während ich also sämtliche Geschäfte plündere und meine Wintereinkäufe tätige (die gesamte Stadt London ist dank Brexit im Moment um 30% reduziert), bemerkt mein modisch komplett uninteressierter Vater eine Oldtimer-Ausstellung, die sich aus welchem Grund auch immer inmitten der angesagtesten Geschäfte eingefunden hat. An jedem Auto findet man einen Sticker „London To Brighton“, denn diese Autos fahren scheinbar tatsächlich noch! Brighton, die Stadt von (englischen) Stränden, YouTubern und Lesben.
Ich wäre gern dorthin gefahren, aber leider rast die Zeit und wir haben zu viel anderes zu tun, als dass wir uns einen Abstecher leisten könnten.
Dementsprechend biegen wir irgendwann in die Carnaby Street ab, und durch eine wirklich äußerst unglückliche Verwechslung landen wir im „Liberty“-Kaufhaus. Was wir bis dahin nicht wussten: Das „Liberty“ ist wirklich DAS Nobelkaufhaus. Eingebettet in etwas, das aussieht wie ein altes Fachwerkhaus oder ein mittelalterlicher Pub, mit altem Gemäuer, knarrenden Dielen und penibel gefeilten Holzgeländern. Sicher nicht behindertengerecht, dafür umso ästhetischer.
So strolche ich durch die Regale: original Vintage-Kleider von 1950, Designer, die so bekannt sind, dass man noch nie von ihnen gehört hat, Klamotten, für deren Preis man sich auch alternativ einen Kleinwagen besorgen könnte. Ernsthaft, da hängt so teurer Scheiß! Mir ist ein einfaches weißes Hemd aufgefallen, so eines habe ich schon lange gesucht. Wirklich, nicht mehr als ein einfaches, weißes Hemd. Ich WAGE es, auf das Preisschild zu schauen:
£965.
FÜR EIN WEISSES HEMD.
Aber na gut.
Vorbei an Eltern, die ihren Kleinkindern, die nicht mal das Konzept hinter Geld verstehen, Klamotten in Wert von Ponys kaufen, versuche ich also angestrengt, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gerade etwas zurückgehängt habe, weil es mir zu teuer war, solange, bis wir endlich aus diesem (visuell durchaus sehr ansprechenden) Horrorhaus raus sind.
Oh, und hier ein persönliches Highlight: die Carneby Street, die bereits Anfang November weihnachtlich dekoriert ist. That’s right, bitches, bros, and nonbinary hoes, Weihnachtsdeko im Regenbogen-Schmetterling-Design, wie cool ist das denn bitte?
Doch die Carnaby Street sieht nicht nur gut aus, nein, sie hat auch fantastische Läden. Von Klassikern wie simplen Adidas-Shops, über Izipizi-Brillenläden bis hin zu dem absolut coolsten Schuhladen, den ich je irgendwo gesehen habe. Falls ihr euch je so RICHTIG fancy Schuhe kaufen wollt, schaut mal bei irregularchoice.com vorbei. Ich finde diese Schuhe so faszinierend, es ist fesselnd. Allerdings kann ich meinen Vater leider nicht dazu überreden, mir das größte Paar glitzernde Stiefel, die die Welt je gesehen hat, zu kaufen (glaubt mir, ich habe mein Bestes versucht), also verlasse ich auch diesen Laden mit leeren Händen, dafür aber um viele Eindrücke und Schuhideen reicher.
(Falls ihr allerdings schonmal das Vergnügen hattet, mich im Sportunterricht zu sehen, dann ist euch sicherlich meine berüchtigte Gamer-Leggins aufgefallen. Die habe ich im Nachhinein bei IrregularChoice bestellt und ich bereue es kein Stück.)
Mit ein wenig zu vielen Tüten in der Hand rufen wir also das nächste Uber, das uns zunächst zu unserem Abendessen und anschließend zum Top Secret Comedy Club fährt.
Auf meinen Wunsch hin hat mein Vater dafür Tickets besorgt, wobei ihm das komplette Programm nicht bekannt war, denn so läuft das scheinbar. Drei Comedians plus der hauseigene Moderator des Clubs treten jeden Abend auf, allerdings sind nur zwei der drei Kabarettisten angesagt, der dritte ist ein meist wohlbekannter Fernsehstar der Szene (hier in Deutschland hat man wahrscheinlich noch nie von ihnen gehört, denn einen Bo Burnham wird man selbst da nicht mehr antreffen).
Hier kann man sich übrigens jegliche Corona-Regelungen sonstwohin schieben. Zu Masken wird geraten, aber es gibt nicht einen Gast, der sie aufhat, und selbst wenn man auf seinem Stuhl sitzt, hat man mehr Körperkontakt mit seinen Nachbarn als 80% der Anwesenden wahrscheinlich über die letzten zwei Jahre hatten, und da wir in einer Art Kellerraum sitzen, kann man das Fensteraufmachen auch vergessen. Yeehaw.
Da wir uns nicht ganz sicher sind, ob dieser Club jugendfrei ist (das Programm war es jedenfalls nicht), rät mir mein Vater, falls ich von irgendjemandem gefragt werde, wie alt ich denn sei, mit „18“ zu antworten. Das ist auch der beste Teil daran, wenn man aussieht, als hätte man einen Uniabschluss und würde fest im Leben stehen (das wurde mir ernsthaft mal gesagt). Kurz überlegen wir, uns in die erste Reihe direkt neben den Comedian zu setzen, entscheiden uns aber dann doch dagegen, aus (berechtigter) Angst davor, dann unfreiwillig Teil des Programms zu werden. Das ist den armen Touristen aus Nordengland, die sich schlussendlich dorthin gesetzt haben, schließlich auch widerfahren, während mein Vater und ich nur umso glücklicher über unsere Sitzwahl waren.
Dort sitzend erzählt mein Vater mir jetzt aufgeregt, wie großartig und authentisch dieser Club ist: klebriger Fußboden, viel zu kurze Kleider, Neonlichter über der Bar und überteuerte Drinks. Das lässt ihn fast vergessen, dass er mit seinen 55 Jahren dort wahrscheinlich unter die zehn ältesten Besucher dieser Show fällt. Ein kurzer Blick durch die Zuschauermasse, die inzwischen ziemlich zugenommen hat, verrät auch, dass ich wahrscheinlich am anderen Ende des Spektrums zu den zehn jüngsten gehöre.
Nachdem der Moderator nach seinem ersten Auftritt die Bühne verlassen hat, weiß ich so gut wie alles über die sechs nordenglischen Studenten aus der ersten Reihe, die ein triple Date haben, sowie die beiden Inder daneben, die „just as friends“ hier sind (jaja, ist klar – dafür haben sich beide zu frech zugekichert).
Akt Eins ist auch schon der so sehr top secret Superstar: Jamali Maddex. Er ist gut, sehr gut sogar. Der Joke, der mir wahrscheinlich am meisten im Kopf geblieben ist (aus keinem sonderlichen Grund natürlich…), ist der Satz: „I wake up. I’m thirty. I’m me. I want to die.“ Good old Millenial-/-Gen-Z-Humor. Auch, wenn ich vielleicht ein wenig zu sehr lache und mein Vater mich vielleicht ein wenig zu erschrocken anschaut. Allerdings geht doch nichts über ein wenig zu ernstgemeinten Selbsthass. 🙂
Akt Zwei, Nico Yearwood, auch äußerst empfehlenswert. Aber was ich größtenteils von ihm und auch allen anderen dort mitgenommen habe, ist, dass Menschen mit 30 scheinbar irgendwie ihr Leben im Griff haben. Sie sind zwar immer noch depressiv und haben Sozialängste, aber es geht wohl irgendwie. Die haben alle Kinder, besuchen ihre Familien in der Karibik oder sonst wo, und kriegen es tatsächlich hin, dabei nicht zu sterben. Wirklich bewundernswert, jetzt ist der Druck, bis in 15 Jahren nicht zu verkacken, noch viel größer. Oder vielleicht werde ich auch einfach Müllmann…
Existenzielle Krise beiseite, nachdem der DJ mal kurz ein paar Hundert Menschen in diesem Club während der Toilettenpause gerickrolled hat, geht es auf zum letzten Akt, meinem persönlichen Favourite:
George Zacharopoulos. Ja, ich muss diesen Namen jedes Mal auf seinem Instagram nachschlagen. Ja, ich folge ihm nur dort, weil er darum gebeten hat und mir mit seinen 2500 Followern ein wenig leidtat. Nein, ich kann diesen Namen nicht aussprechen und werde es auch gar nicht erst versuchen.
Um zum Thema zurückzukommen: George ist Grieche, und das war so ziemlich sein Programm. Ich weiß selbst am Ende nicht, ob er schwul oder homophob ist, aber so oder so, es ist lustig. Auch, wenn mein Vater und ich die Hälfte der Witze nicht verstanden haben, weil das Programm sehr eindeutig auf britische Zuhörer ausgelegt ist, es ist sehr amüsant gewesen, einen ganzen Saal von Menschen „Angels“ von Robbie Williams grölen zu hören.
Erschlagen kommen wir also wieder im Hotel an und fallen fast augenblicklich ins Bett. Am nächsten Morgen genießen wir das letzte Mal unser English Breakfast, das leider wirklich nur in England exakt so gut schmeckt, packen unsere Koffer (wobei wir natürlich die Quietsche-Ente aus dem Hotelbad mitgehen lassen) und machen uns via Uber auf den Weg zum Flughafen.
Und so müssen wir uns verabschieden von einem London, das man so wahrscheinlich nie wieder sehen wird. Ich war vor Corona mindestens einmal jährlich in London, doch jetzt, in Zeiten, in denen jeder sehnlichst einen Ausbruch aus seinem täglichen Alltag gebrauchen kann, scheint es schöner als je zuvor.
Vielleicht ist es das bisschen Normalität, die eine Flugreise an sich mit sich bringt, vielleicht die lockereren Corona-Maßnahmen, vielleicht der Fakt, dass ich Verwandte wiedersehen konnte, bei denen nicht sicher war, ob es je wieder dazu kommen würde, aber dieser Ausflug hat mich trotz einer so mitreißenden, lebendigen Stadt so entschleunigt, wie es kein anderer Selfcare-Akt dieser Welt je hätte zustande bringen können.
Ja, London in Zeiten von Corona ist anders, aber nicht weniger schön. Es ist leerer, die Maskenempfehlungen hängen an jeder Ecke und das Virus ist das erste Thema, über das man beim Smalltalk mit dem Taxifahrer redet, aber darum geht es nicht. Es geht darum, mal etwas anderes als seine eigenen vier Wände zu sehen. Es geht darum, andere Menschen zu sehen, sich in überfüllten Clubs wildfremden Menschen aus allen Teilen der Welt faktisch auf den Schoß zu setzen, für ein paar wenige Momente, und wenn es nur die Zeit bis zum nächsten Desinfektionsmittelspender ist, Normalität zurückzugewinnen.
London ist wunderschön und war schon immer eine meiner Lieblingsstädte, aber vor allem jetzt scheint es mehr zu leuchten, zu glänzen und einzuladen, sein eigenes, langweiliges, immer gleiches Leben hinter sich zu lassen, als je zuvor.
Fotos: Smilla Kreuzberg
Wow, mehr kann man nicht sagen, einfach wow!
Umwerfend. Sehr informativ und gut verständlich. Der Reisebericht ist super und macht Lust auf das Reisen. Großes Lob an die Autorin, an die komplette Schülerzeitung und Frau Glaser, die mit Herzblut an der Sache hängt. Einfach mega!!!!!!! ☺️☺️☺️☺️🔥
Sehr schöner Bericht, weiter so👍🏼