Eine Reportage über die Willkommensgruppe für ukrainische Jugendliche am HSG

Wo wart ihr, als ihr das erste Mal mitbekommen habt, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist? Ich kann mich noch sehr gut an meinen Moment erinnern: Ich bin am Morgen des 24. Februars durch die Türe in unser Wohnzimmer getreten, in Gedanken verloren, welche Früchte sich wohl heute in mein Müsli verirren würden. Mein Vater saß wie jeden Tag in seinem Bademantel am Esstisch, aber diesmal begrüßte mich kein fröhliches „Guten Mooorgen, meine Tochter! Und, wie hast du geschlafen?“, sondern ein bleicher, starrer Blick, gefolgt von den Worten „Putin hat die Ukraine angegriffen“.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nicht aus Schock, wie man vielleicht denken mag, sondern weil ich nichts sagen wollte. Politik macht mir Angst. Meiner Meinung nach sind das viel zu wenige Menschen mit viel zu viel Macht. Aber das ist ein anderes Thema.

Jetzt, mehr als drei Monate später, weiß ich immer noch nicht, was ich zum Krieg sagen möchte. Ich weiß nur, dass die Menschen, die ich durch diesen Krieg kennengelernt habe, ein wahrer Lichtblick im grauen Nebel meiner Gedanken um dieses Thema sind. Glücklicherweise wurde ich nun auch im Auftrag der Schülerzeitung offiziell zwei Stunden lang in den Unterricht der Willkommensgruppe voller ukrainischer Jugendlicher geschickt, um diese Menschen, die einem immer mal wieder im Sportunterricht oder im Chor über den Weg laufen, etwas besser kennenzulernen!

Also betrete ich eines schönen Donnerstags zur dritten Stunde den Klassenraum der Willkommensgruppe. Ein Haufen Jugendlicher wuselt umher und unterhält sich angeregt miteinander auf slawischen Sprachen, von denen ich leider kein Wort verstehe. Ich mache mich also auf zum Pult, an dem zwei Damen im jungen Lehrerinnenalter sitzen. Da ich sie noch nie gesehen habe, nehme ich an, dass das die Betreuerinnen und Lehrerinnen der Ukrainer sind, was sich bewahrheitet. Nachdem ich erklärt habe, warum ich hier bin, setze ich mich ruhig an einen Tisch in der hinteren Ecke des Klassenzimmers, der neugierigen Blicke der Jugendlichen bin ich mir dabei sehr bewusst. 

Fast 30 Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren aus verschiedenen Teilen der Ukraine

Hinter mir hängen Plakate mit Namen, Zeichnungen und einigen Daten zu den Schülern, die ich sofort als Steckbriefe wahrnehme. Aus ihnen schließe ich, dass die aufgeregt diskutierende Gruppe aus fast 30 Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren alt ist und aus ganz verschiedenen Teilen der Ukraine kommt. Die Tische sind in einer U-Form vor der digitalen Tafel aufgestellt, auf ihnen liegen Arbeitsblätter, Stifte, iPads und was sonst noch so zu einem vollständig ausgestatteten, leicht chaotischen Arbeitsplatz eines Schülers gehört. Schräg vor mir steht eine mannsgroße Karte Deutschlands mit Pinnnadeln darin, und selbst ich mit meinem sehr limitierten Wissen über die geografische Beschaffenheit meines Heimatlandes kann mir denken, dass mit ihnen die Hauptstädte der Bundesländer markiert sind. An den Seitenflügeln der Tafel hängt alles, was zu gutem Grammatikunterricht gehört: verschiedene Schilder mit den Artikeln „der“, „die“ und „das“ sowie mit Endungen, auf die Nomen dieser Artikel scheinbar oft enden (jetzt mal im Ernst: Wusstet ihr, dass es da Regelmäßigkeiten im Deutschen gibt? Ich dachte, man müsste sich einfach dumm und dämlich lernen und das Grauen akzeptieren, wie es ist…), eine Liste mit Wochentagen und etwas, das ich als Versuch einer Erklärung des 9-Euro-Tickets deute. Hey, im Gegensatz zu meinem Französischunterricht tatsächlich mal was, das einem im Alltag weiterhelfen kann (sorry Herr Schaback, Sie können ja auch nichts für die Unterrichtsinhalte)! An allen möglichen Objekten hängen Schilder mit den Worten dafür: „die Tür; die Türen“, „der Stuhl; die Stühle“, „das Fenster; die Fenster“, „der Tisch, die Tische“.

Bald erhebt sich eine der Lehrerinnen und ruft „Heute Musik! Möchte jemand zu Musik? Musik!?“, woraufhin sich ungefähr die Hälfte der Schüler versammelt und den Raum verlässt.

Aus der verbleibenden Traube von Schülern löst sich sogleich ein Mädchen und kommt auf mich zu. Freundlich versucht sie mich etwas auf Ukrainisch zu fragen. Als sie aus meinem sichtlich überforderten Lächeln jedoch deutet, dass ich kein Wort verstanden habe, kommt ein etwas zaghaftes: „What is your name?“ Woraufhin ich – wahrscheinlich etwas zu enthusiastisch – ebenfalls auf Englisch antworte und versuche zu erklären, dass ich von der Schule bin, um einen Artikel über sie zu schreiben. Jetzt ist es an ihr, leicht gequält zu lächeln und sich wieder an ihre Freundinnen zu wenden. Aber hey, ich habe zwar keine Ahnung, was sie mir zu Beginn sagen wollte, aber ich nehme mal an, es war ein freundliches Angebot, sich in die Gruppe zu stellen oder sowas. Da ich allerdings als Fremdkörper die Stimmung nicht allzu sehr ruinieren möchte, warte ich auf Frau Hillmann, die sogleich den Raum betritt. Sie leitet heute den Unterricht und bietet mir sofort an, mich in einfachem Deutsch der Klasse vorzustellen. Dieses Mal nehme ich das Angebot gern an und stelle mich vor das Whiteboard. 

Wieder fällt mir auf, wie freundlich die Augen der Jugendlichen sind, als würden sie geradezu danach dürsten, Neues kennenzulernen. Fast alle haben sie ein Lächeln auf den Lippen und folgen aufgeregt den Worten, die ich versuche, so einfach wie möglich zu äußern: „Hallo, ich bin Smilla, ich bin 15 Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse. Heute möchte ich einen Artikel über euren Unterricht für die Schülerzeitung schreiben.“

Kaum habe ich aufgehört zu reden, beginnt Getuschel, das aber keineswegs argwöhnisch klingt, eher fragend und interessiert. Eine der Betreuerinnen, die, wie mir jetzt bewusst wird, weder Ukrainisch noch Russisch spricht, versucht die Unklarheit zu lüften und erklärt: „Zeitung, wisst ihr, was Zeitung ist? Newspaper?“ Sie hebt ein Magazin hoch: „Das hier. Eine Zeitung für die ganze Schule! Und sie schreibt einen Artikel über euch!“

Ich setze mich und merke schnell, dass der gesamte Unterricht ähnlich abläuft. Man versteht einander nur begrenzt, aber jeder gibt sein Bestes. Man benutzt Hände und Füße, Bilder auf Google, wo es geht, auch das englische. Schüler, die viel verstehen und schon länger hier im Deutschunterricht sind, wenden sich an Neuankömmlinge und erklären auf Ukrainisch. 

Der Unterricht am Morgen des nächsten Tages, einige sind im Sportunterricht, für den Rest steht wieder Grammatik auf der Tagesordnung.

Als verkündet wird, dass alle Schüler ihre iPads zücken sollen, denn es wird Kahoot gespielt, freuen sich die Ukrainer mindestens so sehr wie deutsche Schüler (ich glaube, Kahoot ist das weltweite Nonplusultra für Kinder, egal welcher Nationalität). Frau Hillmann erklärt mir, dass sie die ersten zwei Stunden richtigen Unterricht gemacht haben, jetzt allerdings, wo die Hälfte der Schüler zum Sonderangebot Musikunterricht gegangen ist, der freiwillig für Interessierte angeboten wird (genau wie auch Kunstkurse), spielen die Verbleibenden etwas, damit niemand wichtige Grammatik verpasst. Das Kahoot besteht aus Fragen zu dem Stoff, der bereits überall im Klassenzimmer verteilt nachzulesen ist: „Was ist richtig? Der Fahrrad, die Fahrrad, das Fahrrad?“, „Was ist Aschaffenburg? Eine Stadt, ein Fluss, ein Land, ein Mensch?“ oder „Wahr oder falsch? München ist die Hauptstadt von Deutschland“. Die Lehrerinnen sind sichtlich stolz auf ihre Schüler, wann immer der Großteil die richtige Antwort gibt, und wiederholen geduldig Bereiche, die viele falsch haben. 

Viele Schüler sprechen die Fragen laut mit, jedes Wort ganz vorsichtig. Sie besprechen sich mit ihren Banknachbarn, wägen genau ab, was an der Tafel steht, und kommen schließlich zu einer Entscheidung. Bei einer schwierigen Frage, die richtig beantwortet wird, kann es auch mal vorkommen, dass ein besonders fröhlicher Gewinner aufspringt, um zu zelebrieren. Als jemand mit dem Namen „Persyk“ das Kahoot gewinnt, merke ich, dass die Begrifflichkeiten „Lehrer“ und „Schüler“ hier eigentlich komplett fehl am Platz sind. Beide Parteien lernen hier voneinander, beide wissen nicht immer, wie sie klarmachen sollen, was sie voneinander wollen, und trotzdem schaffen beide es doch, am Ende ein bisschen näher an ihrem persönlichen Ziel zu sein, was immer das auch sein mag. So springen sofort Jugendliche ein, als das gefragte Mädchen der Betreuerin nicht erklären kann, was „Persyk“ bedeutet, und rufen für sie „Peach! Peach!“, woraufhin die drei Damen sichtlich fröhlich darüber sind, heute auch ein neues Wort gelernt zu haben. 

Nach dem zweiten Kahoot, das sich eher mit deutscher Kultur und Fragen über das Land an sich statt Grammatik beschäftigt hat, bricht eine große Diskussion zwischen Betreuerinnen und Jugendlichen aus, weil laut einer Statistik das Lieblingsgetränk der Deutschen unglaublicherweise Kaffee ist, und nicht Bier, woran die Ukrainer vehement festhalten.

Roman und Vladislava erzählen von ihren Erlebnissen

Nachdem der Konflikt dann doch irgendwie geschlichtet werden konnte, indem man sich auf Bier auf dem zweiten Platz geeinigt hat, ziehe ich mich mit den zwei Sechzehnjährigen Roman und Vladislava in einen Nebenraum für ein Gespräch zurück. Frau Hillmann hat mich an die beiden weiterverwiesen, als ich nach Schülern gefragt habe, die gut Deutsch bzw. Englisch sprechen, was im Endeffekt allerdings gar nicht nötig gewesen wäre, denn dank eines genialen Geistesblitzes meinerseits habe ich dann meine Klassenkameradin und Freundin Alina aus dem Spanischunterricht gezogen, damit sie mir mit ihrem fließenden Russisch zur Seite stehen kann (Kuss geht raus, Alina, my Bro!). Und da Frau Hillmann an diesem Setup von Menschen sehr interessiert war, ist sie auch direkt dageblieben. Also bitte begrüßt mit mir auf eurer mentalen Bühne: Roman und Vladislava!

Als Alina mit mir den Raum betritt, beginnen Vladislavas Augen zu leuchten, denn sie war bereits das ein oder andere Mal bei uns im Sportunterricht dabei, wo die beiden Mädchen sich hervorragend verstanden haben. Schon bald beginnen Roman und Vladislava nicht nur auf meine Fragen zu antworten, sondern fühlen sich auch immer wohler in ihrer Rolle als Interviewte und reden ausführlich mit Alina auf Russisch über alle Eindrücke, die die beiden hier und in Russland gesammelt haben, die mir dann schlussendlich schön zusammengefasst auf Deutsch weitergegeben werden.

Roman ist seit drei Monaten in Deutschland, Vladislava seit zwei. Deutsch haben beide bereits vorher gelernt, allerdings hat Vladislava erst ein paar Wochen vor ihrer Abreise in der Schule damit begonnen. Alina erklärt mir, dass in der Ukraine Deutsch gelernt wird wie bei uns Spanisch, Vladislava ergänzt, dass sie die Wahl zwischen Deutsch und Französisch hatte. Der Unterricht an der Schule gefällt ihnen gut, wie immer gebe es gute und schlechte Lehrer, Frau Hillmann, oder Leonie, wie sie sie nennen, zähle zu den besten (diese Aussage wurde vielleicht ein wenig davon beeinflusst, dass sie ihnen keinen Meter gegenübersaß, aber sie scheinen das Kahoot genossen zu haben, dementsprechend glauben wir ihnen das jetzt mal kommentarlos ;-)). Als ich sie nach Veränderungsvorschlägen gefragt habe, haben sie ein wenig bedrückt geantwortet, dass manchmal unterschätzt wird, wie schwer es ist, eine Sprache zu lernen, wenn nicht einmal die Lehrer deine Sprache sprechen. Es wäre schön, wenn es noch mehr Übersetzer gäbe. Und, auch das wurde von den beiden lautstark nochmal erwähnt: mehr Kahoot! Beiden hat der Sportunterricht mit den „normalen“ Klassen zusammen viel Spaß gemacht, und auch hier wird klar, dass Leichtathletik einfach ein universaler Graus ist. Vladislava spielt lieber Volleyball, Roman fand Basketball mit den deutschen Jungs lustig. Laute Zustimmung kommt auch von den beiden, als ich sie frage, ob sie gern mehr Kontakt zu anderen Schülern hätten. Es wäre mal was anderes, etwas Abwechslung zum ewigen Grammatikunterricht, auch wenn die beiden die Ausflüge, die die Lehrer mit ihnen zu nahegelegenen Lernmöglichkeiten wie der Eisdiele machen, schön finden. Frau Hillmann ergänzt hier auch gleich, dass nach den Pfingstferien geplant ist, die ukrainischen Schüler in Fächern wie Englisch und Mathe am Unterricht in den regulären Klassen am HSG teilnehmen zu lassen. Die beiden Ukrainer sind voll dafür, bis jetzt hätten sie nur gute Erfahrungen mit ihren zukünftigen Mitschülern gemacht, alle seien hilfsbereit und freundlich, wo auch immer man aufeinandertrifft, und obwohl man bereits in der kleinen Klasse, in der sie jetzt sind, viele Freunde gefunden habe, sind die beiden über jeden neuen Kompagnon glücklich.

Vladislava liest schon Bücher auf Deutsch

Auch als ich gefragt habe, was sie am meisten aus der Heimat vermissen, waren sie sich einig: das Essen! Vladislava hat uns vorgeschwärmt, wie toll Borscht bei ihr zu Hause geschmeckt hat, aber in Deutschland ist der Kartoffelsalat ihrer Meinung nach super. Roman hat sich ganz in der bayerischen Kultur wiedergefunden, vor allem in den Weißwürstchen, wenn auch nicht mit Bier, dann doch für ihn mit Soße! Ihre Freizeit verbringen die beiden Teenager mit ihren neugewonnenen Freunden, mit Sport (Roman zeigt stolz seine Mitgliedskarte zum nächsten Fitnessstudio, um die ihn Vladislava sogleich beneidet), und, engagiert wie sie eben sind, mit mehr Deutschübungen. Beide belegen in ihren Dörfern weitere Deutschkurse, um schneller Fortschritte zu machen. Vladislava erzählt stolz, dass sie viele Bücher auf Deutsch liest.

Bevor ich direkter zu Fragen komme, die mehr mit dem Krieg und der Flucht der beiden zu tun haben, möchte ich hier nochmal erwähnen, dass sich die beiden bewusst waren, dass dieses Interview geführt und veröffentlicht wird, und dass ich sie nochmal extra darauf hingewiesen habe, dass sie nichts beantworten müssen, was ihnen zu privat, zu traumatisch oder zu schmerzhaft ist. Beide haben gelächelt und abgewunken, es sei kein Problem für sie.

Roman ist mit seiner Mutter und seiner neunjährigen Schwester in ihrem Auto von der Ukraine nach Deutschland gefahren. Hier hat sie eine deutsche Großmutter aufgenommen, bei der sie auch jetzt noch leben (als Frau Hillmann das Wort „Babushka“ in Romans Erzählung ausmacht, ruft sie aufgeregt „‘Babushka‘? Großmutter?“ und auf sein Nicken beginnt sie zu grinsen und sich zu freuen, dass auch sie einen Teil seiner russischen Geschichte versteht – und schon werde ich wieder daran erinnert, dass hier nicht nur die Schüler zum Lernen sind.). Seine Eltern haben schon lange getrennt gelebt, weshalb sein Vater mit seiner neuen Familie in der Ukraine geblieben ist. Trotzdem möchte Roman nicht zurück, sobald er kann, möchte er studieren, weiß aber noch nicht genau was. 

Vladislava ist mit dem Bus bis nach Polen gefahren, wo sie von ihrer älteren Schwester, die bereits vorher in Deutschland gewohnt hat, mit dem Auto abgeholt wurde, mit ihr lebt sie auch jetzt zusammen. Ihre Eltern und die anderen vier Geschwister sind in der Ukraine geblieben, vor allem ihre kleine Schwester vermisst die Sechzehnjährige sehr. Im Moment redet sie mit Mutter und Vater über einen möglichen Besuch, den der Rest der Familie ihnen in Deutschland abstatten könnte, aber noch ist keiner in Sicht. Aber auch für sie steht fest: Sie bleibt hier, ihre Zukunft liegt in Deutschland. Sie möchte eine Ausbildung in der Hotel- und Restaurantbranche machen, sie erzählt uns prompt von dem Praktikum, das sie in den Ferien in einem Eiscafé in ihrem Dorf machen wird. Sollte das gut laufen, hat sie ihren zukünftigen Beruf gefunden. Nachdem Roman von seinen getrennten Eltern erzählt hat, fügt sie noch schnell hinzu, dass sie mit 30 einmal heiraten möchte, und zwar den Richtigen, auf all die Trennungen hat sie keine Lust!

Als ich frage, ob es noch etwas gibt, das die beiden der Schülerzeitung erzählen möchten, werden Vladislavas Augen groß und sie erzählt uns von einer Mensamitarbeiterin, die allen ukrainischen Flüchtlingen ans Herz gewachsen sei. Sofort stimmt Roman zu, diese eine, sie sei großartig. Zwar hat sich noch niemand getraut, nach ihrem Namen zu fragen, aber sie sei besonders hilfsbereit und freundlich den neuen Schülern gegenüber. Sie, diese eine Mensamitarbeiterin, deren Namen sie nicht kennen, möchten sie grüßen. Also hi, hallo! Falls du das hier liest, ich hoffe, du weißt, wie glücklich du diese Kinder damit machst!

Viel Spaß und Körpereinsatz im Musikunterricht

Nachdem ich mich nicht nur von Roman und Vladislava, sondern auch dem Rest der Klasse verabschiedet habe, mache ich mich auf zur anderen Hälfte der Klasse im großen Musiksaal. Schon beim Betreten merke ich, dass das hier kein Musikunterricht ist, wie wir ihn haben würden. An der Tafel steht zwar ein Rhythmus, der geklatscht werden soll, aber im Großen und Ganzen geht es hier darum, dass die Schüler Spaß haben. Frau Penz, die seit 25 Jahren an unserer Schule Cellounterricht gibt und seit Beginn der Willkommensgruppe am HSG das Musikprogramm leitet, bestätigt mir, dass sie den Jugendlichen einfach eine Abwechslung zum stundenlangen Deutschunterricht bieten möchte. Sie weist gleich darauf hin, dass sie nicht viel Englisch und die Teenager nicht viel Deutsch sprechen, aber sie kriegen das schon irgendwie zusammen hin.

In der hinteren Ecke stimmt ein Mädchen unter genauer Beobachtung ihrer Freundin ihre Gitarre, Frau Penz versucht mit dramatischen Gesten drei Jungen dazu zu bekommen, mit mehr Körpereinsatz zu trommeln, sie steckt all ihr Herzblut in den Versuch, ihnen die Geschichte von Pinocchio nahezubringen und dynamisches Klatschen beim Rest der Klasse zu erzielen. Als sie zufrieden scheint, bittet sie das Mädchen, nein, die junge Dame, mit der Gitarre ans Klavier und probiert verschiedene Pop-Lieder durch, bis sie schließlich doch bei Queen und „We Will Rock You“ landet. Schon übertönen laute Bongos und energetisches Klatschen das Klavier und man merkt, dass hier niemand ist, weil er muss, sondern dass sich diese Schüler für den Musikunterricht entschieden haben, weil sie Musik machen möchten. Wie gut das funktioniert, interessiert niemanden, für sie zählt nur, dass sie Spaß dabei haben!

Nach „We Will Rock You“ bietet Frau Penz der Gitarren-Klavier-Dame an, sie könne ein Lied singen, wenn sie wolle. Alexandra, so heißt sie, bejaht fröhlich und beginnt, „Rolling In The Deep“, von sich selbst am Klavier begleitet, zu schmettern, und… halleluja – ich hätte diesen Wuschellocken nicht zugetraut, dass da SO eine fantastische Stimme drunter verborgen ist, ihre Darbietung ist Adele-würdig! Vor allem, als Alexandra aufsteht und ein ukrainisches Volkslied zum Besten gibt, bin ich hin und weg von ihrer Stimmgewalt. So eine Kraft, so ein Stimmumfang, so eine Darbietung, ich glaube, das habe ich noch nie in so einer Form an unserer Schule gehört.

Als Frau Penz fragt, ob das Lied bekannt ist, und alle bejahen, stellt sich die Frage, warum niemand mitsingt. Ein Mädchen antwortet auf Englisch, es sei nicht ihre Musikrichtung, sie höre lieber Pop. Ein gefundenes Fressen für Frau Penz, die sofort eine Lektion darüber hält, dass jeder Musikgeschmack respektiert werden muss, sie aber gern ihr Lieblingslied singen darf. Nach ein wenig Überzeugungskraft beginnt auch sie, auf Ukrainisch zu singen, mit einer ebenfalls wunderschönen Stimme. Gerührt versucht Frau Penz ihr Bestes, der Schülerin klarzumachen, dass ihr Lied sie sehr berührt habe und wie gut die Tonlage zu ihrer Stimme passen würde, doch leider klingelt es in diesem Moment, und die zwei Schulstunden, in denen ich unseren neuen ukrainischen Mitschülern folgen durfte, enden.

Die jungen Ukrainer sind mit vollem Einsatz dabei

Nach diesen eineinhalb Stunden voller Lachen, voller Grübelei und Spaß bin ich immer noch massiv beeindruckt von der umwerfenden Fröhlichkeit im Umgang der Ukrainer mit ihrem Umfeld. Es ist kaum eine Minute ohne Lachen oder Kichern vergangen, sie wirken froh, glücklich und – wovon sich die deutschen Schüler mal eine Scheibe abschneiden könnten – als wollen sie in der Schule sein und lernen! Egal, was sie getan haben, sie waren mit vollem Einsatz dabei. Ich wurde sofort offen begrüßt, dass auch ja keiner ausgelassen wird, und egal, worum es ging, es wurde immer irgendeine Geste gefunden, die die Lehrer oder Mitschüler verstanden haben, um auszudrücken, was gerade abging.

Genauso hat es mich beeindruckt, wie offen Roman und Vladislava doch mit mir waren, wie gern sie ihre Geschichte erzählt haben. Doch nicht nur die Schüler waren motiviert, den Lehrerinnen schien es nicht anders gegangen zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass es das ist, was sich jeder Lehrer erhofft. Energetische, lernwillige Schüler, denen man tatsächlich mal alltagstaugliche Themen nahebringen kann, deren Verbesserungen man Tag für Tag mitverfolgen kann!

Alle, aber wirklich alle Beteiligten waren hier voll bei der Sache und haben alles gegeben, jeder aus seinem eigenen Grund, aber im Großen und Ganzen doch für ein gemeinsames Ziel: ein neues Zuhause für junge Menschen, die Sicherheit, Glück und vor allem eine richtige Jugend verdient haben!

Fotos: Smilla Kreuzberg

5 thoughts on “Zwischen Kiew und Hösbach”
  1. Huhu miteinander,

    ich bin neu auf dieser Seite und war sofort begeistert von den mitreißenden Artikeln. Ich wünsche mir noch mehr solche Artikel. Einfach nur wow!

  2. Toller Bericht!!! Kann da nur zustimmen. Ukrainer mega nett und die Schule hat sich toll um die Jugendlichen gekümmert. Jeder Artikel von dieser Schule ist ein Meisterwerk. Wenn ich zwischendurch mal Zeit habe, lese ich sie liebend gerne. Großes Lob an alle beteiligten. Einfach nur toll!!!!!!!!☺️☺️☺️😘

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